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28.12.2021

Bundesverfassungsericht: Gesetzgeber muss Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage treffen

Das Bundesverfassungsericht in Karlsruhe hat am 28.12.21 ein richtungsweisendes Urteil zur Triage veröffentlicht. Demnach muss der Gesetzgeber "unverzüglich" Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Entscheidung über Triage treffen, das heißt, wenn Ärzte entscheiden müssen, wen sie angesichts knapper Ressourcen retten und wen nicht.

Geklagt hatten bereits Mitte 2020 neun Menschen mit Behinderung und Vorerkrankungen. Wie das Gericht ausführte, sind die Beschwerdeführenden schwer und teilweise schwerst behindert und überwiegend auf Assistenz angewiesen. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde begehren sie einen wirksamen Schutz vor Benachteiligung von Menschen mit einer Behinderung bei der Entscheidung über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen, die im Laufe der Coronavirus-Pandemie nicht für alle Behandlungsbedürftigen ausreichen können, also in einem Fall einer Triage.

Sie sind der Auffassung, der Gesetzgeber schütze sie in diesem Fall nicht vor einer Diskriminierung aufgrund ihrer Behinderung. Der Erste Senat hatte hier einzig zu entscheiden, ob der Gesetzgeber verpflichtet ist, wirksame Vorkehrungen zu treffen, dass niemand in einem Fall einer Triage aufgrund einer Behinderung benachteiligt wird.

Zum Sachverhalt:

Behinderte Menschen mit bestimmten Beeinträchtigungen und Vorerkrankungen seien in der Coronavirus-Pandemie spezifisch gefährdet. "Sie unterliegen in Einrichtungen und bei täglicher Unterstützung durch mehrere Dritte einem hohen Infektionsrisiko, und sie tragen ein höheres Risiko, schwerer zu erkranken und an COVID-19 zu sterben. Um in der Pandemie auftretende Knappheitssituationen in der Intensivmedizin und damit eine Triage von vornherein zu verhindern, wurden zahlreiche Verordnungen und Gesetze in Kraft gesetzt oder geändert. Gesetzliche Vorgaben für die Entscheidung über die Zuteilung nicht für alle ausreichender intensivmedizinischer Kapazitäten gibt es bislang aber nicht. Weithin finden jedoch standardisierte Entscheidungshilfen Anwendung", erläuterte das Gericht in der Presseaussendung.

Die Beschwerdeführenden rügen mit ihrer Verfassungsbeschwerde, dass der Gesetzgeber das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und auch die Anforderungen aus Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention verletze, weil er für den Fall einer Triage im Laufe der Coronavirus-Pandemie nichts unternommen habe, um sie wirksam vor einer Benachteiligung zu schützen. Handele der Gesetzgeber nicht, drohe ihnen zudem die Verletzung ihrer Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und ihrer Rechte auf Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG).

Mehr zur ausführlichen Urteilsbegründung in der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts. Reaktionen auf das Urteil gibt es u.a. in einem ausführlichen Bericht beim SPIEGEL vom 28.12.21 und Aerzteblatt online.

Weitere Informationen:

Der Gesetzgeber muss Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage treffen
Pressemitteilung Bundesverfassungsericht vom 28. Dezember 2021

»Es geht um die Verteilung von Lebenschancen«
Bundesverfassungsgericht entscheidet über Triage
SPIEGEL 28.12.21

Gesetzgeber muss Menschen mit Behinderung bei pandemiebedingter Triage schützen
Aerzteblatt.de 28.12.21

»Jetzt kann sich der Bundestag nicht mehr drücken«
Reaktionen auf Triage-Beschluss:
SPIEGEL 28.12.21