29.02.2012
Analyse zum EU-Gerichtshof-Urteil auf Stammzellenpatent
29.02.2012: Menschenwürde und Forschungsprogramme mit embryonalen Stammzellen: Eine Analyse des Urteils des Europäischen Gerichtshofs Brüstle – Greenpeace
Menschenwürde und Forschungsprogramme mit embryonalen Stammzellen: Eine Analyse des Urteils des Europäischen Gerichtshofs Brüstle – Greenpeace
Der folgende Text enthält eine kurze Analyse des Urteils des Europäischen Gerichtshofs in der Sache Brüstle/Greenpeace vom 18.10.2011 und seiner Auswirkungen auf die europäische Forschungspolitik, insbesondere die weitere Förderung der Stammzellforschung gemäß Kapitel XIX des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union.
Das Urteil
Am 18. Oktober 2011 hat der EuGH in der Sache Brüstle/Greenpeace (Rs. C-34/10), angerufen vom Bundesgerichtshof im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (EU-Vertrag) über die Frage der Patentierbarkeit technischer Verfahren, die embryonale Stammzellen verwenden, entschieden. Greenpeace hatte ein Verfahren eingeleitet, ein für Herrn Brüstle eingetragenes deutsches Patent, das neurale Vorläuferzellen und die Verfahren zu ihrer Herstellung aus embryonalen Stammzellen sowie ihre Verwendung für therapeutische Zwecke betrifft, für nichtig zu erklären. Im vorliegenden Verfahren geht es um die Auslegung von Art. 6 Abs. 2 lit. c der Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6.7.1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen (Amtsblatt 1998 L 213, S. 13).
Die Entscheidung des Gerichts lautete:
1. Jede menschliche Eizelle vom Stadium ihrer Befruchtung an, jede unbefruchtete menschliche Eizelle, in die der Zellkern einer ausgereiften menschlichen Zelle transplantiert wurde, und jede unbefruchtete menschliche Eizelle, die durch Parthenogenese zur Teilung und Weiterentwicklung angeregt worden ist, stellt einen „menschlichen Embryo“ im Sinne der Richtlinie dar und ist damit von der Patentierbarkeit ausgeschlossen.
2. Der Ausschluss des Gebrauchs menschlicher Embryonen für industrielle und kommerzielle Zwecke von der Patentierbarkeit gemäß der Richtlinie 98/44/EG, schließt den Gebrauch menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken mit ein.
3. Die Richtlinie schließt ebenfalls eine Erfindung von der Patentierbarkeit aus, bei der die technische Lehre, die Gegenstand des Patentantrags ist, die vorherige Zerstörung menschlicher Embryonen oder ihren Gebrauch als Rohstoff erfordert, gleichgültig in welchem Entwicklungsstadium dies der Fall ist.
Analyse des Urteils
In dieser Entscheidung legt der EuGH Art. 6 der Richtlinie 98/44/EG aus, der sich mit bioethischen Einschränkungen der Patentierbarkeit befasst. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 98/44/EG schließt Erfindungen aus, die einem ethischen Minimal-Standard widersprechen: Erfindungen werden dann als nichtpatentierbar angesehen, wenn ihre kommerzielle Nutzung der öffentlichen Ordnung oder Moral widersprechen. Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie nennt hierfür Beispiele. Insbesondere erfüllt die Nutzung menschlicher Embryonen für industrielle oder kommerzielle Zwecke die genannten Voraussetzungen und ist deshalb nicht patentierbar.
Der EuGH beruft sich zur Begründung vor allem auf die Menschenwürde. Die Menschenwürde ist auch die Grundlage für die in der Richtlinie selbst genannten Einschränkungen. Obwohl die Richtlinie zum Ziel hat, Investitionen auf dem Gebiet der Biotechnologie zu fördern, muss der Gebrauch vom Menschen stammenden „biologischen Materials“ mit den Menschenrechten, vor allem mit der Menschenwürde vereinbar sein. Der Gerichtshof betont, dass die Menschenwürde der Grund war, weshalb Art. 6 in die Richtlinie aufgenommen wurde: „…die Gesetzgebung der Europäischen Union beabsichtigt, jegliche Möglichkeit einer Patentierung auszuschließen, soweit es um den Schutz der Menschenwürde geht.“
In Anbetracht dessen nimmt der Gerichtshof an, dass der Begriff des menschlichen Embryos im Rahmen des Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 98/44/EG weit auszulegen ist.
Der Gerichtshof legt, in einem ersten Schritt, die weit gefasste Klausel in Art. 6 Abs. 2 lit. c der Richtlinie in der Weise aus, dass jede menschliche Eizelle mit Beginn ihrer Befruchtung als menschlicher Embryo angesehen werden muss, da mit der Befruchtung der Prozess der Entwicklung einer menschlichen Person beginnt.
Darüber hinaus schließt der EuGH in einem zweiten Schritt, dass die Einordnung als Embryo auch für unbefruchtete menschliche Eizellen zutreffend ist, in die der Zellkern einer ausgereiften menschlichen Zelle transplantiert worden ist sowie für die unbefruchtete menschliche Eizelle, deren Teilung und weitere Entwicklung durch Parthenogenese in Gang gesetzt wurde. Der Gerichtshof beruft sich insoweit auf die wissenschaftlich erwiesene Tatsache, dass eine solche Eizelle ebenso wie ein in vitro hergestellter Embryo in der Lage ist, den Prozess der Entwicklung eines Menschen zu beginnen.
Der Gerichtshof betont, dass dies ebenfalls für Verfahren gilt, die embryonale Stammzellen vorwiegend zu Forschungszwecken benutzen. Auch wenn die Ziele wissenschaftlicher Forschung von industriellen oder kommerziellen Zielen zu unterscheiden sind, kann der Gebrauch menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken – der Gegenstand der Anwendung des Patents ist – nicht grundsätzlich von dem Patent selbst und den hiermit begründeten Rechten unterschieden werden.
Der Gerichtshof kommt zu dem Schluss, dass nach Art. 6 Abs. 2 lit. c der Richtlinie jegliche Erfindung nicht patentierbar ist, die auf einem Verfahren beruht, mit dem menschliche Embryonen zerstört werden, auch wenn es bei dem hier streitigen Patent nicht um den Gebrauch menschlicher Embryonen geht. Der EuGH argumentiert damit, dass die Entfernung einer Stammzelle von einem menschlichen Embryo im Stadium der Blastocyste die Zerstörung dieses Embryos zur Folge hat. „Die Tatsache, dass die Zerstörung lange vor der Umsetzung der Erfindung eingetreten ist, wie dies bei der Produktion embryonaler Stammzellen von einer Zelllinie der Fall ist, deren Herstellung mit der Zerstörung von menschlichen Embryonen einherging, ist in dieser Hinsicht irrelevant.
Das bedeutet, dass Art. 6 Abs. 2 lit. c der Richtlinie 98/44/EG im Hinblick auf die Achtung der Menschenwürde als eines allgemeinen Grundsatzes des Rechts der Europäischen Union, wie er durch die Richtlinie 98/44/EG konkretisiert wird, als eine Schutzbestimmung auszulegen ist, nach der embryonales menschliches Leben vor jeder schwerwiegenden Gefahr einer Verletzung durch die wissenschaftlichen oder technischen Verfahren zu schützen ist, die der Erfindung vorausgehen. Der Gerichtshof hat bereits in einer früheren Entscheidung betont, dass im Hinblick auf „lebende Substanzen menschlicher Herkunft“ die Richtlinie das Patentrecht in einer Weise einschränkt, die sicherstellt, dass der menschliche Körper einer Verzweckung entzogen ist und dadurch dem Grundsatz der Menschenwürde entsprochen wird (EuGH, Rs. C-377/98, Niederlande vs. Europäisches Parlament, Slg. I-7149, S. 77).
Bemerkenswert ist, dass der Gerichtshof auf ein „autonomes Konzept des Rechts der Europäischen Union“ Bezug nimmt, mit welchem er einen Europäischen ordre public (ein Mindestmaß ethischer Standards) definiert, aus dem sich Einschränkungen der Patentierbarkeit ergeben. Der Gerichtshof nimmt an, dass einer Bestimmung des Europäischen Rechts, die nicht ausdrücklich auf das Recht eines Mitgliedstaates Bezug nimmt, eine autonome (d.h. eine vom nationalen Recht losgelöste, Anm. d. Übersetzerin) und einheitliche Auslegung innerhalb der EU zukommen muss.
In seiner Omega-Entscheidung hat der Gerichtshof zum ersten Mal die Menschenwürde als einen Grund zur Rechtfertigung der Einschränkung wirtschaftlicher Freiheiten angeführt. Damals war der Gerichtshof noch zurückhaltend, ein autonomes Konzept der Menschenwürde nach Europäischem Recht zu entwickeln, und hat stattdessen auf die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten Bezug genommen, die Menschenwürde zu schützen. Der Gerichtshof legte in der damaligen Entscheidung die Unterschiede in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der ethischen Standards zugrunde, die als ein nationaler ordre public gemäß Artt. 36, 45 Abs. 3, 52 Abs. 1, 62 EU-Vertrag bezeichnet werden können. Der Gerichtshof wies darauf hin, dass gemeinsame rechtliche oder ethische Standards der Mitgliedstaaten ein Indiz dafür seien, dass der nationale ordre public sich im Einklang mit dem Recht der Europäischen Union befinde. Dies war eine mehr dezentralisierte Sichtweise des ordre public (vgl. Gärditz, Menschenwürde, Biomedizin und europäischer Ordre Public, in: Dujmovits et al. (Hrsg.), Medizin und Recht, 2006, S. 11). Jetzt hat sich der Gerichtshof im Brüstle-Fall entschlossen, autonome Standards der Menschenwürde nach dem Recht der Europäischen Union zu entwickeln. Bestimmte Verfahren sind der Patentierbarkeit entzogen, ohne dass die Mitgliedstaaten noch irgendeinen Spielraum haben, den ordre public in Einklang mit ihrer nationalen Rechtsordnung und ihren ethischen Werten zu definieren. Im Ergebnis vertritt der Gerichtshof damit ein strenges Konzept der Menschenwürde, das einheitlich anzuwenden ist.
In diesem Sinne geht der Gerichtshof implizit davon aus, dass es in der Verantwortung der Europäischen Union liegt, die Menschenwürde innerhalb des Geltungsbereichs des Europäischen Rechts zu schützen. Wenn man die beiden Urteile Omega und Brüstle vergleicht, stellt man fest, dass sich die Menschenwürde stillschweigend von einer bloßen Rechtfertigung für nationale Einschränkungen wirtschaftlicher Freiheiten zu einem allgemeinen Grundsatz des Europäischen Rechts entwickelt hat.
Relevanz für die Europäische Forschungspolitik
Obwohl der zugrundeliegende Patentrechtsstreit auf den ersten Blick nicht auf dem Primärrecht (EU-Vertrag, Europäische Menschenrechtskonvention, Anm. d. Ü.), sondern allein auf dem Sekundärrecht, hier insbesondere der Richtlinie 98/44/EG beruht, haben die Gründe weitere Auswirkungen über das Patentrecht hinaus. Wie oben gezeigt wurde, ist die einschlägige Bestimmung des Art. 6 der Richtlinie 98/44/EG unmittelbarer Ausdruck des Schutzes der Menschenwürde. Die Menschenwürde ist aber auch als grundlegendes Recht nach dem EU-Primärrecht geschützt:
Die Menschenwürde wird zwar in der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht ausdrücklich erwähnt, ist aber integraler Bestandteil des Konzepts der Menschenrechte, wie es der Menschenrechtskonvention zugrunde liegt. Das Wesen und Kernanliegen der Konvention ist der Schutz der Menschenrechte und der menschlichen Freiheit (Europäischer Menschenrechtsgerichtshof, Urteil v. 29.4.2002, Rs. 2346/02, EGMR 2002-III, 155, 194). Gemäß Art. 6 Abs. 3 EU-Vertrag sind grundlegende Rechte der Europäischen Menschenrechtskonvention, als allgemeine Rechtsgrundsätze, auch Bestandteil des Europäischen Primärrechts. Entsprechend hat Generalanwalt Bot in seiner Stellungnahme darauf hingewiesen, „dass die Europäische Union nicht nur einen zu regulierenden Markt darstellt, sondern auch eine Wertegemeinschaft. Noch bevor es in Art. 2 des EU-Vertrages festgeschrieben wurde, war deshalb das Prinzip der Menschenwürde bereits vom EuGH als allgemeines Rechtsprinzip anerkannt.“
In Übereinstimmung mit Art. 6 Abs. 3 EU-Vertrag besteht eine weitere, ergänzende Quelle zur Feststellung grundlegender Rechte in den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten. (…) Eine Analyse der Verfassungen der Europäischen Staaten ergibt, dass die meisten Verfassungen von der Menschenwürde oder der persönlichen Integrität als einem grundlegenden Aspekt der Würde ausgehen.
Art. 1 der Grundrechts-Charta der Europäischen Union garantiert den Schutz der Menschenwürde: „Die Menschenwürde ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ Gemäß dieser Bestimmung ist die Menschenwürde „unantastbar“, was bedeutet, dass jegliche Beeinträchtigung der Menschenwürde absolut untersagt ist (vgl. Schmidt, Der Schutz der Menschenwürde als `Fundament` der EU-Grundrechtscharta unter besonderer Berücksichtigung der Rechte auf Leben und Unversehrtheit, Zeitschrift für Europäische Studien 2002, S. 631, 642).
Deshalb gibt es kein rechtliches Argument, das eine Verletzung der Menschenwürde rechtfertigen kann. Generalanwalt Bot bezieht sich deshalb in seiner Stellungnahme ausdrücklich auf das grundlegende Recht der Menschenwürde, wie es in Art. 1 der Grundrechtscharta niedergelegt ist.
In Übereinstimmung mit diesem Artikel verlangt die Menschenwürde von der Europäischen Union eine Gesetzgebung, die jeden gegen Beeinträchtigungen seiner oder ihrer Rechte schützt, sofern die EU nur eine ausreichende Gesetzgebungskompetenz auf dem jeweiligen Gebiet hat. Genau dieser Verpflichtung ist die EU mit der Einfügung des Art. 6 in die Richtlinie 98/44/EG nachgekommen.
Art. 3 der Grundrechtscharta schützt das Recht auf körperliche Unversehrtheit als unmittelbare Ausprägung der Menschenwürde. Dieses Recht kann insbesondere durch bestimmte biomedizinische Praktiken verletzt werden, wie Art. 3 Abs. 2 der Charta ausdrücklich klarstellt. Die Bestimmung des Art. 3 Abs. 2 der Charta bezieht sich nicht ausdrücklich auf Freiheitsrechte, sondern stellt Aspekte der biomedizinischen Wissenschaft dar, die als für die Menschenwürde besonders bedrohlich wahrgenommen werden. Da die biomedizinische Forschung und Behandlung jedenfalls im Grundsatz nicht zum Zuständigkeitsbereich der Organe der Europäischen Union gehört, zielt Art. 3 der Charta primär auf die Verhinderung entsprechender Bedrohungen von privater Seite. Art. 3 kommt zwar keine unmittelbare horizontale Drittwirkung zu, entfaltet aber Schutzwirkung. Art. 3 Abs. 2 der Charta dient damit als Rechtfertigung für die Untersagung von Verhaltensweisen, die andernfalls unter den Schutz der Wissenschaftsfreiheit nach Art. 13 der Charta fallen würden (vgl. Weiß, EU-Verfassungsvertrag und Biotechnologie, Medizinrecht 2005, S. 458, 462). Im Hinblick auf die Gefahren schrankenloser biologischer Forschung beschränkten die Autoren der Charta die Wissenschaft zugunsten eines besseren Schutzes der Menschenwürde. Die in Art. 3 der Charta festgelegten Grenzen stellen deshalb gleichermaßen Beschränkungen für die Forschungspolitik der Europäischen Union dar.
Gemäß Art. 6 Abs. 1 EU-Vertrag ist die Charta Teil des Rechts der Europäischen Union im Rang von Primärrecht. Deshalb ist die Charta für alle Organe der Europäischen Union bindend, einschließlich der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments.
Da der Gerichtshof Art. 6 der Richtlinie 98/44/EG im Hinblick auf die Menschenwürde auslegt, sind die Schlussfolgerungen, die der Gerichtshof hier zieht, für die Auslegung der Menschenwürde nach dem Konzept des Europäische Primärrechts unmittelbar relevant (d.h. der Auslegung, die der Gerichtshof in dieser Entscheidung vornimmt, kommt unmittelbare rechtliche Relevanz zu, Anm. d. Ü.). Deshalb sprechen gute Gründe für die Annahme, dass Europäisches Sekundärrecht, welches Praktiken erlaubt, die nach Art. 6 Abs. 2 lit. c der Richtlinie 98/44/EG verboten sind, die Menschenwürde als Teil des Europäischen Primärrechts verletzt.
Der Gerichtshof geht zu Recht davon aus, dass die Menschenwürde durch das Recht der Europäischen Union von dem Moment an geschützt werden muss, da der Prozess der Entwicklung einer menschlichen Person begonnen hat. Es ist gerade der menschliche Embryo in seiner Würde und Integrität, der zu schützen ist und der deshalb nicht als Werkzeug der Forschung oder als ein Objekt kommerzieller Ausbeutung betrachtet werden darf. Der Embryo hat, was die Menschenwürde betrifft, einen unabhängigen Status. Dieser Status wird insbesondere dann verletzt, wenn der Embryo zerstört wird. Gemäß dem amerikanischen „fruit of the poisonous tree“-Gedanken kommt der EuGH überzeugend zu dem Schluss, dass die Achtung vor dem Status des Embryo den Ausschluss einer Erfindung von der Patentierung beinhaltet, auch wenn diese nicht selbst menschliche Embryonen zum Gegenstand hat, sondern aus einem Verfahren stammt, bei dem embryonales Leben zerstört wird. Deshalb, so scheint es, nimmt der Gerichtshof eine Verantwortung des Rechts der Europäischen Union an, menschliches Leben zu schützen, weil alles menschlichen Leben, auch im frühesten Stadium seiner Entwicklung, Träger der Menschenwürde ist.
Im Hinblick auf dieses Schutzkonzept macht es keinen Unterschied, ob die Europäische Union die Entwicklung einer menschlichen Person dadurch gefährdet, dass sie ein Patentrecht für eine Erfindung gewährt, die die Zerstörung menschlicher Embryonen zur Folge hat, oder ob sie die Forschung solcher Verfahren vorantreibt. Die direkte Förderung der embryonalen Stammzellforschung durch die Europäische Union verletzt die Menschenwürde erst recht. Würde die EU ein entsprechendes Forschungsprogramm aufstellen, würde sie damit zum Ausdruck bringen, dass wissenschaftliche Verfahren, die mit der Zerstörung embryonalen menschlichen Lebens einhergehen, einen wünschenswerten Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt in der EU darstellen.
Es scheint mir klar zu ein, dass die Förderung der embryonalen Stammzellforschung durch die Europäische Union gemäß Kapitel XIX des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union eine Verletzung der Menschenwürde bedeuten würde, welche im Rang von Primärrecht steht.
Schlussfolgerungen
In Anbetracht der allgemeinen Prinzipien des Unionsrechts hat sich der EuGH immer verpflichtet gefühlt, sicherzustellen, dass das grundlegende Recht der Menschenwürde und der körperlichen Unversehrtheit beachtet wird (EuGH, Rs. C-377/98, Niederlande vs. Europäisches Parlament, Slg. (2001)-I, 7149). Wenn der Europäische Gesetzgeber wissenschaftliche Forschung an embryonalen Stammzellen nach einem Programm gemäß Kapitel XIX des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union fördert, wäre ein solches Programm rechtlich anfechtbar. Insbesondere ist der Gerichtshof im Rahmen einer Klage gemäß Art. 263 EU-Vertrag berechtigt, die Rechtmäßigkeit des relevanten Vorhabens am Maßstab des EU-Primärrechts zu prüfen. In Anbetracht der im Fall Brüstle niedergelegten Gründe ist es sehr wahrscheinlich, dass der Gerichtshof ein jegliches Gesetzesvorhaben für unwirksam erklären würde, das die Förderung embryonaler Stammzellforschung zum Gegenstand hat.
Auf der anderen Seite würde, sollte der Europäische Gesetzgeber die Förderung wissenschaftliche Vorhaben mit embryonalen Stammzellen aufgeben wollen, kein wesentliches Risiko bestehen, da es weder nach EU-Vertrag noch nach der EU-Grundrechtscharta noch aus einer sonstigen Rechtsquelle einen Anspruch auf finanzielle Förderung embryonaler Stammzellforschung gibt.
Selbst wenn aus der Brüstle-Entscheidung kein Verbot für den Gesetzgeber entnommen werden könnte, die Forschung mit embryonalen Stammzellen zu fördern, hat der Gerichtshof mit dieser Entscheidung der Patentierung von Erfindungen, die mit embryonalen Stammzellen zu tun haben, einen definitiven Riegel vorgeschoben. Andernfalls würde die EU Forschungsvorhaben fördern, die nie den Schutz geistiger Eigentumsrechte gemäß dem europäischen Patentrecht genießen könnten. Wissenschaftler außerhalb der EU könnten damit Forschungsvorhaben uneingeschränkt profitieren, die durch die EU gefördert würden (sie unterliegen ja nicht den dargestellten Einschränkungen, die sich aus dem Europäischen Recht für die Forschung mit embryonalen Stammzellen ergeben, Anm. d. Ü.). Deshalb wäre es zumindest politisch unkorrekt, Forschungsprojekte mit embryonalen Stammzellen zu fördern.
(Prof. Dr. Klaus F. Gärditz)
(Übersetzung Dr. Friederike Hoffmann-Klein)