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06.02.2017

Buchrezension zu Axel W. Bauer: Normative Entgrenzung. Themen und Dilemmata der Medizin- und Bioethik in Deutschland

Rezension von Prof. Paul Cullen, erschienen in der Zeitschrift "LebensForum" der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA), Nr. 119 vom Okober 2016

»In wenigen Jahrzehnten dürfte sich der gesellschaftliche Konsens in der Frage der Abtreibung bis zur Geburt und im Bereich der Reproduktionsmedizin vermutlich so in Richtung einer (…) „Liberalisierung“ verschoben haben, dass die Menschen in der Mitte des 21. Jahrhunderts kaum noch verstehen werden, weshalb diese Analyse aus dem Beginn des Jahrhunderts von einer gewissen Melancholie gekennzeichnet war.« So die deprimierende Schlussfolgerung von Axel Bauer im Kapitel 13 seines neuen Buchs »Normative Entgrenzung«.

So schreibt ein Professor, der die bioethischen Debatten in Deutschland in den letzten 20 Jahren nicht nur verfolgt, sondern mitgestaltet hat, nicht zuletzt als Mitglied des Deutschen Ethikrates in den Jahren 2008 bis 2012. Sein Buch ist eine beeindruckende Tour d’Horizon über die düstere Landschaft der medizinischen Bioethik in Deutschland und bietet dem interessierten Leser Gelegenheit, sich in allen wichtigen Bereichen auf den aktuellen Stand des Lebensrechts zu bringen. Es gliedert sich in fünf thematische Blöcke, die sich mit den »Aufgaben, Methoden und Aporien« der Medizinethik, der geschichtlichen Entwicklung moralischer Leitlinien in der Medizin, der Stammzellforschung, dem Menschen am Lebensanfang und dem Menschen am Lebensende beschäftigen.

Besonders aufschlussreich bei der Lektüre war für den Rezensenten die Auseinandersetzung mit dem historischen Wandel von Moralvorstellungen. Noch bevor Bauer Medizinethiker wurde, war er Medizinhistoriker, was ihn hierfür besonders qualifiziert. So vertritt er in Anlehnung an die Philosophen John Searle und Rafael Ferber eine »metaethische Theorie, der zufolge moralische Aussagen als institutionelle Tatsachen dargestellt werden müssen, die durch kommunikative Aushandlung und Vereinbarung innerhalb einer Sprach-, Kultur-, Glaubens- oder Rechtsgemeinschaft etabliert, tradiert und modifiziert werden«. Auch liefert Bauer eine sehr gute Definition der Würde des Menschen als »de[r| rechtliche Ausdruck des Respekts vor der zu jedem Zeitpunkt konstanten Gesamtheit aus Potenzialität und realisierter Wirklichkeit eines menschlichen Lebens«, die sehr hilfreich ist, um Angriffe auf dieses Konzept abzuwenden.

Wichtig ist auch die Beobachtung, dass der seit Beginn des 21. Jahrhunderts festzustellende Boom der Ethik, besonders der Medizin- und Bioethik, kein gutes Zeichen ist, sondern im Gegenteil in einer »völlig amoralische[n] Gesellschaft (…) [womöglich] der Beruhigung ihres schlechten Gewissens« dient. Eine Kernaussage ist die Befürchtung, dass in einer »wertepluralen Kultur- und Wissensgesellschaft, wie sie die westliche Welt heute darstellt, (…) sich die Menschen selbst zum Maß aller Dinge machen und dann vermutlich all das realisieren, wozu sie technisch in der Lage sind«. Dass man in Deutschland und anderen westlichen Ländern dieser Meinung ist, wundert nicht. Allerdings ist diese Einschätzung womöglich zu pessimistisch. Eine Zeitgeistwende vollzieht sich oft im Verborgenen, um mit einem Mal im politischen Raum aufzutauchen mit dem Ergebnis, dass scheinbar unveränderliche geistige und historische Gebilde in kürzester Zeit in sich zusammenbrechen.

Wer hat 1985 gedacht, dass binnen fünf Jahren der »real existierende Sozialismus« auf dem Schrotthaufen der Geschichte landen würde? In den USA und einigen osteuropäischen Ländern hat es jüngst gesetzliche Verbesserungen des Lebensschutzes gegeben, und selbst in Deutschland wächst die Lebensrechtsbewegung, wie die stetig steigenden Zahlen vor allem junger Teilnehmer beim »Marsch für das Leben« zeigen. Gleichwohl ist Bauers Buch für jeden an Bio- und Medizinethik interessierten Leser unverzichtbar und für die Lebensrechtsbewegung ein Grundtext.

Professor Dr. med. Paul Cullen

Axel W. Bauer: Normative Entgrenzung. Themen und Dilemmata der Medizin- und Bioethik in Deutschland.
Springer VS Verlag, Wiesbaden 2017.
300 Seiten. 39,99 EUR.

Rezension erschienen in der Zeitschrift "LebensForum" der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA), Nr. 119 vom Okober 2016